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09.April 2002
Media art

Meisterklasse Shirin Neshats: Narzissmus, Performances und das endlose Video
[Maxim Raiskine]

Shirin Neshat "Turbulent", videoAm 6. April fand im Institut Pro Arte eine Meisterklasse unter der Teilnahme der bekannten amerikanischen Künstlerin Shirin Neshat, dem Regisseur Shodja Azari, Studenten des Instituts Pro Arte und Petersburger Künstlern sowie Kunstkritikern statt.
Die Meisterklasse dauerte zwei Stunden und bestand in der Vorführung von Petersburger Filmen und ihrer anschließenden Diskussion. Den Organisatoren war es nicht möglich, so sehr sie sich auch bemühten, sämtliche Filme zu zeigen: Die angesetzte Zeit reichte nur für jene Filme der Studenten des Institutes aus (wie ich es verstehe, auch in diesem Fall bei weitem nicht für alle), und letztendlich blieb nur noch Zeit für einen Film des Petersburger Video-Künstlers Dmitrij Vilenskij.
Aus den sieben gezeigten Filmen der Pro-Arte-Studenten waren zwei von besonderem Interesse. Der absolute Hit war der einminütige Streifen Andrej Ustinovs "Narziss". Eine Beschreibung dieses Films ist recht einfach, denn er besteht ausschließlich aus einer statischen Aufnahme einer Toilettenschüssel. Den größten Teil des Films (nach Angaben des Autors genau zwei Drittel) nimmt der Prozess des Urinierens ein und anschließend, nach dem Verschwinden entstandener Bläschen und dem Eintreten der Stille, erscheint im Spiegel des Urins das lächelnde Gesicht des Autors, das, in sein eigenes Antlitz schauend, "I love you" sagt.
Andrej Ustinov "Narcissus", video Ustinov selbst, der im Moment seines Triumphes abwesend war und erst später erschien (daher war die die Meisterklasse leitende Svetlana Ostrova gezwungen, das Video nochmals zu zeigen), erläuterte, dass er sowohl mittels des Titels als auch der Arbeit selbst habe zeigen wollen, dass als Medienkünstler der gilt, der als Material für seine Arbeiten nur sich selbst und seinen Körper verwendet.
Ein weiterer beim Publikum erfolgreicher Film war "Star in my eyes" Maksim Kaschirskijs, ein Klangpfad, für den jene Geräusche verwendet wurden, die beim Hochfahren des Betriebssystems Windows entstehen. Beim ersten Ton, der den Beginn des Prozesses anzeigt, öffnet ein Mann mit Brille auf einem halbdunklen Bildschirmhintergrund die Augen. Beim zweiten Ton – der Musik Brian Enos, die darüber Auskunft gibt, dass das System bereits hochgefahren ist – geht in dem Raum, in dem sich der Mann befindet, das Licht an, und er "erwacht". Der Kommentar des Autors war weniger umfangreich als der Ustinovs: Kaschirskij beschränkte sich auf die Bemerkung, dass er versuchte, in seiner Arbeit seine innere Welt zu visualisieren, was natürlich spontanes Gelächter im Publikum hervorrief.
A propos Humor: Die Meisterklasse erinnerte kaum an ein offizielles Ereignis unter der Teilnahme von Stars der internationalen Kunstszene. Die Filmvorführungen wechselten sich mit recht ungezwungenen Kommentaren ab, Kommentare mit spontanen Performances, die aus leichtfertig hingeworfenen Sätzen entstanden. Kaschirskij entgegnete auf die Frage Shirin Neshats, ob er noch andere Arbeiten habe, dass es ein Projekt gebe mit dem Titel "in-progress": Ein Student von Pro Arte sammelt Aussagen bekannter Künstler über die Kälte und schickt sich an, diese im Sommer im Museum der Arktis und Antarktis auszustellen. Kaschirskij verschwendete natürlich keine Zeit, um auch einen Kommentar Neshats und ein Autogramm zu erhalten, worüber diese sich, vornehm gesagt, sehr wunderte. Es vergingen nur wenige Minuten, bis sich der amerikanische Star wiederholt von den Petersburger Künstlerinnen Gljuklja und Tsaplja (Natalja Perschina-Jakimanskaja und Olga Egorova) in höchste Verwirrung versetzt fühlte. Letztere, gehüllt in weiße Overalls, knieten vor der verständnislosen Video-Künstlerin nieder und begannen, ihr Gesicht zu berühren, wahrscheinlich in der Hoffnung einer Erscheinung höherer Kräfte. Anfangs vermutete Neshat wohl einen bösen Streich, aber Gljuklja und Tsaplja hatten nicht vor, sie nach der Art Jurij Lejdermans mit Seilen zu verschnüren (sei es, weil dies nicht zu ihren Plänen passte, oder weil es einfach keine Seile gab), so dass diese Einlage erfolgreich mit den Worten Neshats: "Who is this? Who are these girls?" endete. Als man ihr antwortete, diese seien Petersburger Künstlerinnen und Neshat verstand, dass dies alles nur ihr zu Ehren geschah, beruhigte sie sich.
Im übrigen verlief die Diskussion eher ruhig, wenn man von der heftig geführten Diskussion im Anschluss an den Streifen "Eine Mark" Dmitrij Vilenskijs absieht. Das Video, das Vilenskij im Dezember 2001 in Deutschland aufgenommen hat (kurz vor der Einführung des Euro), zeigt Aufnahmen auf einem Flohmarkt in einer deutschen Stadt. Unendlich wiederholen sich die Schreie der türkischen Verkäufer "eine Mark". Der Film selbst dauert fünf Minuten, aber er würde sicherlich nicht leiden, wenn man ihn kürzen oder in einer wesentlich längeren Variante zeigen würde: Der Streifen schickt sich offensichtlich nicht an, dem Zuschauer etwas mitzuteilen. Das Video rief eine stark negative Reaktion seitens Neshats und Azaris hervor, so dass man im Prinzip prognostizieren könnte: Die Filme Neshats und Azaris setzen das Vorhandensein einer sinnvollen Vollendung voraus. Die negative Reaktion der Amerikaner rief ihrerseits eine lautstarke und entrüstete Reaktion seitens der Petersburger Künstler (in erster Linie Olga Egorovas, der Vertreterin des abwesenden Dmitrij Vilenskijs) hervor. Es entspann sich ein lebhaftes Gesprächsduell, dessen einziges Resultat es war, dass anschließend keine Zeit mehr für die Vorführung weiterer Filme blieb. Letztendlich einigten sich die teilnehmenden Parteien darauf, nicht weiter zu streiten und die Filme unterschiedlichen Typen der Videokunst zuzuordnen – dem symbolischen und dem endlosen (der keine sinnhafte Vollendung erfordert) und schafften es sogar, noch einen weiteren Film der Studentin des Institutes Pro Arte Anna Kolossova anzusehen. Anschließend begab sich das Publikum nach einer kurzen Pause in den benachbarten Saal, um der Vorführung eines Filmes Shodja Azaris nach einer Erzählung von Franz Kafka beizuwohnen.

Übersetzt von Sandra Frimmel(Berlin)



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