22.August 2005
Aktuelle Kunst
Langsame Kunst
[Maxim Rayskin]
"Das
Leben ist schnell, die Kunst ist langsam", schrieb im 18. Jahrhundert
der Schweizer Maler und Schriftsteller Johann Heinrich Füssli.
Drei Jahrhunderte später kann man dasselbe über die Kunst
auf keinen Fall sagen. Gegenwärtige Kunst fordert nicht dauernde
Betrachtungen, sondern existiert nur im Moment des Anblickes, der so
augenblicklich ist wie ein Stachelstich. Das Werk angeguckt, die Unterschrift
gelesen, fertig. Überall aber nur nicht an der Ausstellung der
zeitgenössischen Kunst aus den Niederlanden und Flandern, die bis
zum 6. November im Düsseldorfer Museum Kunst Palast demonstriert
wird. Sie hat auch den entsprechenden Namen - "Slow art".
Folklore und Tradition - Bremsen der
Gegenwart
38
Künstler, Malerei, Installiationen, Objekte, Videos, Fotografien,
Skulpturen; Naturmorten, Landschaftsmalerei, Porträts usw. Alles
wird kaum erwähnt. Neben den renommierten Künstlern wie Marlene
Dumas, Luc Tuymans, Jan Fabre, Wim Delvoye, Rineke Dijkstra werden auch
junge, unbekannte sowie höchst interessante Künstler präsentiert.
Man kann sich die Bilder lange anschauen, mit denen Carsten Höller
sein Karussell dekorierte. Das Karussell ist im Erdgeschoss ausgestellt
und sieht so aus, als ob es hierher von einer holländischen Kirmes
hinüberfahren wurde. Selbst Sujet (Karussell) und absichtlicher
retro Eindrück, den es macht, bringt den Zuschauer in die Zeit
seiner Kindheit zurück, als die Häuser noch groß waren,
und die Zeit langsam wie der Sand einer Sanduhr lief.
Außerdem kann man auch ununterbrochen am Bildschirm eines Rechners
die Abfahrt eines Zuges verfolgen. Dieses digitale Bild wurde in eine
Leinwand eingesetzt, an der ironischerweise ein Bild auf einer Staffelei
dargestellt ist. Der Bildschirm übernimmt also die Rolle der Leinwand.
Auf diese Weise verabschiedet sich Ger Van Elk, dem dieses Werk mit
dem Namen "Trainpainting Adieu" gehört, von der holländischen
Landschaftsmalerei, um sie in der modernen Form eines Videos sofort
wiederzugeben.
In fast allen Kunstwerken der Ausstellung geht es um die nationale künstlerische
Tradition. Sie ist dennoch nicht die einzige Methode, um die ständig
beschleunigte Gegenwart zu bremsen.
Das Leben nach dem Tod
Der
Tod ist noch ein Modus der Existenz, in dem die Zeit apriori abwesend
ist. Der Fleischklumpen von Jan Fabre, der von toten Insekten herausgepresst
wurde, und das tote Pferd von Berlinde De Bruyckere haben auch mit Tradition
zu tun. Der kollektive Körper von Insekten erinnert an die geschlachteten
Ochsen von Rembrandt van Rijn. Das tote Pferd ist ein Hinweis auf die
Bilder des holländischen Malers des XVIII Jahrhunderts Abraham
Hendricksz van Beyeren.
Das tote Pferd ist nach der Vorstellung von Berlinde De Bruyckere der
so genannte Körper ohne Organe: keine Augen, keine Hufe, kein Schwanz.
Es ist eigentlich überhaupt kein Pferd, sondern die Idee eines
Pferdes, die beste Methode, um unter Leben und Zeit einen Schlussstrich
zu ziehen. Nach dem Tod des Pferdes bleibt immer wieder seine Idee,
nach dem Tod des Künstlers seine Werke, die man fast immer betrachten
kann, und die auf jeden Fall unendlich reflektiert werden können.
Es
gibt auch andere künstlerische Methoden, die die Zeit anhalten
können. Und zwar geht es hier um rhetorische oder sogar mythologische
Strategien. So hat Thierry De Cordier, der nach seinen eigenen Angaben
"Denker, Fassadenmaler, Kartofellsortierer, Gärtner, Mönch,
Dichter, Philosoph, Weltverbesserer, Nachtwächter" also kein
"moderner Künstler" ist, die Vögelscheuche gemacht.
Die Scheuche trägt an ihrer Brust einen hölzernen Balken,
an denen "Ich habe absolut nichts mit dem 20. Jahrhundert zu tun"
steht. Sie sieht aus wie eine Hybride zwischen Mensch und Vogel, und
erinnert an den ägyptischen Gott Gorus.
Es ist bekannt, dass im alten Ägypten das Leben nicht mit dem Tod
endete, sondern in eine neue Dimension hinüberging und war demgemäß
viel länger als heute. Diese ägyptische Unsterblichkeit könnte
auch andere Kunstwerke widerspiegeln. Und zwar das "Selbstporträt"
von Mark Manders, das mehr an eine rituelle Begräbnis als an ein
Selbstporträt erinnert. Noch ein Beispiel ist das Objekt von Carlo
Mistiaen, der aus Tassen und Servietten ein Ebenbild von zwei sich anlachenden
Mumien gemacht hat.
Die Geschichte, die fortgesetzt wird
Die
Liste von verschiedenen künstlerischen Strategien, die die Zeit
bremsen oder den Zuschauer vor einem Werk anhalten können, ist
hiermit nicht zu Ende. Die Hauptmethode ist folgende: Man muss die Zeit
oder die Tradition als Inhalt eines Werkes betrachten. Und es ist kein
Zufall, dass die Ausstellung gleichzeitig mit der Retrospektive holländischer
Malerei "Fest der Malerei" mit Werken aus dem 16. - 18. Jahrhundert
im Museum Kunst Palast eröffnet wurde. Theoretisch und organisatorisch
stehen diese zwei Ausstellungen nicht im Zusammenhang, wenn man den
gemeinsamen Ort, wo die beiden ausgestellt werden, nicht berücksichtigt.
Tatsächlich aber ist die "Slow Art" eine kunst-historische
Reflektion und es wird den Zuschauern eine Möglichkeit gegeben,
die Inhalte der Werke von modernen Künstlern zu vergleichen und
zu beurteilen demgemäß, was am anderen Stock demonstriert
wird.
Es handelt sich nicht nur um holländisch-flandrische Identität
und nicht nur um den gemeinsamen Ort. Viele Künstler sind weltbekannt
und arbeiten in verschiedenen Ländern weit weg von Holland. Statt
dieser örtlichen Zusammenhänge wird dem Zuschauer die Identität
der Zeit gezeigt. Es geht um Tradition, um die Kunst, die, wie Kunstkritiker
Robert Hugh sagte, "Zeit enthält, wie eine Vase Wasser enthält".
Die Gegenwart und die Kunst schenken diese Möglichkeit, sich nicht
mit dem Ort, sondern mit der Tradition zu identifizieren, die von den
Künstlern weltweit fortgesetzt wird.