29.September 2002
Books&Literature
Hugo Loetscher, eine Einführung
[Jeroen Dewulf]
So
wie St.Petersburg an der Newa, Lissabon am Tag oder Paris an der Seine
liegt, so liegt Zürich an der Limmat. Allerdings, durch Zürich
fliesst auch ein anderer Fluss: die Sihl. Und wo die Limmat für
das offizielle, das "reiche" Zürich steht, so liegen
an der Sihl mehrheitlich Arbeiterviertel. Dort, nahe der Sihl, wurde
im Jahre 1929 Hugo Loetscher geboren. So wie sich, beim Zusammenfluss
der beiden, das trübe Sihlwasser lange gegen das klare der Limmat
wehrt, so hatte auch Loetscher als "Proletensohn" sich im
"reichen Zürich" zu behaupten. Das Sihlviertel als Symbol
für diejenigen, die "am Rande" leben, diejenigen, die
zwar dazugehören, aber doch nicht ganz, diesem Viertel ist Hugo
Loetscher immer treu geblieben.
Er studierte Sozialwissenschaften in Zürich und Paris und schloss
sein Studium 1956 ab mit einer Dissertation über Den Philosophen
vor der Politik. Für seinen ersten Roman, Abwässer
(1963), wurde er mit dem Charles-Veillon-Literaturpreis ausgezeichnet.
Mit dem überraschenden Thema dieses Werkes versuchte Loetscher
deutlich zu machen, dass trotz aller Unterschiede in Reichtum und Status,
alle Menschen in der Produktion von Dreck völlig gleich sind. Dies
gilt um so mehr für ein Land wie die Schweiz, wo Sauberkeit fast
zu einem Mythos geworden ist. Mit dem Geld des Preises hatte Loetscher
die Möglichkeit, ein Jahr lang im Ausland zu leben. Er wählte
dazu Portugal. Sein kritischer TV-Film Ach, Herr Salazar (1965)
über die portugiesische Diktatur machte es ihm aber unmöglich,
sich weiterhin dort aufzuhalten, wobei die Weigerung von Seiten des
Schweizer Fernsehens, den Film – aus politischen Gründen – nicht
zu senden, im eigenen Land zu einem grossen Skandal führte.
Sein nächster Roman, Die Kranzflechterin (1964), handelt
von einer Frau, die, genauso wie Loetschers Grossmutter, aus Süddeutschland
in die Schweiz kommt und dort, alleine, ihre Tochter grossziehen muss.
Erst viel später wurde dieses Werk neuentdeckt als eines der ersten
Beispiele der Frauenemanzipation in der deutschsprachigen Literatur.
1967 erschien Noah, ein ironisches Werk über die Probleme,
die sich Noah auf den Hals lädt, als er den Entscheid trifft, von allen
Tieren der Welt wenigstens ein Paar für die Arche zu retten, so
dass er am Ende einsehen muss, dass die Sintflut seine letzte Hoffnung
geworden ist.
Seine Edition der Predigt des heiligen Antonius an die Fische (1966),
einer Übersetzung des Meisterwerkes vom portugiesischen Jesuiten António
Vieira, setzte Loetscher weider in Kontakt mit der sogenannten "portugiesischsprachigen
Welt". Da er allerdings nicht mehr nach Portugal reisen konnte,
entschloss er sich dazu, in Brasilien als Journalist zu arbeiten, und
machte daneben Reisen durch Asien auf der Suche nach Reste des ehemaligen
portugiesischen Imperiums. Über Brasilien lernte er auch die meisten
anderen lateinamerikanischen Länder kennen und wurde so in der deutschsprachigen
Presse allmählich zu einem Experten auf dem Gebiet der lateinamerikanischen
Politik und Kultur. So entstand seine Reportage und Analyse über
Cuba: Zehn Jahre Fidel Castro (1969).
Diese und andere Erfahrungen verarbeitete er später in seinem berühmtesten
Werk Der Immune (1975), einem der ersten postmodernen Romane
der deutschsprachigen Literatur. Es handelt sich um einen autobiographischen
Roman, in dem der Autor allerdings nicht das Thema ist, sondern lediglich
die Hauptfigur und dies in der Gestalt des Immunen. Dieser Immune möchte
gerne "in alle Richtugen gehen und aus allen Richtungen zurückkehren,
bis jeder fremde Ort ein vertrauter wurde, jeder vertraute sich einem
fremden anglich und es keinen Unterschied mehr gab zwischen vertraut
und unvertraut", aber hierzu muss er sich immunisieren, denn: "hätte
er voll und ganz mitempfunden an dem, was an einem einzigen Tag auf
dieser Welt geschah, er hätte am Abend an seinen Gefühlen sterben
müssen". Es ist auch das Werk, in dem Loetschers bekannteste Geschichte
erschienen ist: die Entdeckung der Schweiz. In Kolumbien hatte ihn ein
Mädchen gefragt, wer denn sein Land entdeckt hatte, und je mehr er sich
überlegte, umso verlegener wurde er über diese typisch amerikanische
Frage. Bis bei ihm der Verdacht aufstieg, dass sein Land vielleicht
noch gar nicht entdeckt worden war. Daraufhin entschied er sich dazu,
sein eigenes Land literarisch entdecken zu lassen, und zwar von einer
Gruppe Indios, die mit ihrem Boot den Rhein hinauffahren und so die
heutige Schweiz aus ihrer Perspektive beschreiben. Mit Den Papieren
des Immunen erschien 1986 eine Weitersetzung der Immunen-Thematik.
Brasilien bedeutete für Loetscher auch die Begegnung mit Fatima,
einem Mädchen, das im armen Nordosten das Opfer sozialer Ungerechtigkeit
geworden war und von dessen Beerdigung er zufälligerweise Zeuge
geworden war. Da Fatima in einem Alter gestorben war, wo sie noch zu
jung war, als das sie hätte sündigen können, wurde sie
nach lokaler Tradition als ein Engelchen betrachtet, das seinem Platz
im Himmel sicher war. Für dieses Engelchen schrieb Loetscher ein
Buch, Wunderwelt (1979), in dem er als Ausländer Fatima über
ihre eigene Region – den brasilianischen Nordosten – erzählt.
Den Winter 1979/80 verbrachte Loetscher in Los Angeles, wo er seinen
50. Geburtstag feierte. Dort schrieb er seinen Roman Herbst in der
grossen Orange (1982), ein Werk über die USA und über
die Herbstzeit eines Menschenlebens.
Mit Die Fliege und die Suppe (1989) machte sich Loetscher an
eine Thematik heran, bei der es nicht leicht ist, originell zu sein,
nämlich Fabeln. Dennoch gelang es ihm, neue Fabeln zu schreiben,
indem er zwar die Tiere mit dem Menschen in Verbindung setzte, aber
dies ohne ihnen dafür einen menschlichen Charakter zu erteilen.
Tierengeschichten aus der ganzen Welt brachte Hugo Loetscher 1992 in
seinem enzyklopädisch-literarischen Werk Der predigende Hahn
zusammen.
1995 erschien Saison, ein Roman, in dem wieder der erzählende
Aspekt vorherrscht, wie damals in seinen früheren Werken aus den
60er Jahren. Es ist die Geschichte Philipps, der gerade zwanzig geworden
ist und die Schule verlassen hat. Philipp arbeitet eine Saison als Bademeister
in einer Badeanstalt und diese kleine Welt der Badeanstalt dient als
Vorspiel für Philipps grossen Schritt in die Welt, in der er sich
nach der Sommersaison alleine durchzuschlagen hat.
Loetschers letzter Roman, Die Augen des Mandarin (1999), wird
allgemein als eine Weitersetzung der Immunen-Romane betrachtet.
Auch diesmal handelt es sich um ein Werk mit einer deutlich autobiographischen
Basis, in dem Geschichten aus der ganzen Welt und aus den verschiedensten
Epochen erzählt werden. Der Roman fängt an mit der Frage eines
chinesischen Mandarin, der zum ersten Mal einem Europäer begegnet:
"Kann man auch mit blauen Augen sehen?" Über die Begegnung
von Kulturen und die immer rascher werdende Kulturverschmelzung geht
das Gespräch zwischen den beiden Hauptfiguren: einem Schweizer
und einem Chinesen. Im Vergleich zum Immunen ist dieses Werk
jedoch viel radikaler, da die Kulturen nicht mehr nebeneinander, sondern
durcheinander erscheinen. Man könnte es als eine Art "literarische
Mulattisierung" betrachten, das heisst, als ein Werk, in dem versucht
wird, der Kulturmischung der heutigen Welt gleichzukommen. Es ist auch
ein Buch, in dem Überlegungen angestellt werden über das neue
Jahrhundert, das Internet-Jahrhundert, wo alle Grenzen verschwinden
und wo Multikulturalität nicht mehr die Ausnahme, sondern die allgemeine
Regel wird.
Das neueste Werk Loetschers hat als Titel Der Buckel. Es handelt
sich um einen Sammelband mit Erzählungen, die alle direkt oder indirekt
auf das Thema des Buckels hindeuten. Im Zentrum steht derjenige, den
man sonst ausweicht oder mit Gottes Hilfe ändern will: den lädierten
Menschen, den Ausgestossenen. Loetschers Bucklige jedoch fliehen vor
dem heilenden Wunder. Präsentiert werden eine Reihe von Erzählungen,
wobei die Verletzlichkeit des Menschen zu Literatur geworden ist.
Die beiden letzten Werke stellen im gewissen Sinne auch einen Rückblick
dar, einmal per Roman und einmal per Erzählung; sie ziehen Bilanz von
dem, was Hugo Loetscher in dieser Welt siebzig Jahre lang mit seinen
blaugrünen Augen gesehen und gelesen hat. Eine Bilanz auch, von
jemand, der im Immunen im Kapitel "Der Brief an die Schwester"
über das Ziel seines Lebens schrieb. Während sie die Ausbildung
ihrer Kinder zu ihrem Ziel gemacht hatte, hat er ein Leben lang über
eine Welt geschrieben, die nicht in Ordnung ist. Warum er dies tat,
sagt er Folgenderweise: "Für einen anderen Kampf als
den mit der Schreibmaschine bin ich nicht geeignet. Deine Zukunft läuft
und streitet und plärrt, und meine ist nicht aus Fleisch, sondern
aus Papier, und ich glaube an Papier."
Hugo Loetscher über die Sprachsituation
in der Schweiz: ein Interview
Site
von Deutsche Literatur Saisonen in Sankt Petersburg