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29.September 2002
Books&Literature

Helvetia Mediatrix: Das Ende eines Traumes?
Hugo Loetscher über die Sprachsituation in der Schweiz: ein Interview

Jeroen Dewulf: Herr Loetscher, Charles-Ferdinand Ramuz, der Klassiker der modernen welschen Literatur, hat behauptet, dass der gelbe Briefkasten das Einzige ist, was französischsprachige Schweizer mit ihren deutschsprachigen Landsleuten gemeinsam haben. Was halten Sie von einer solchen These?

Hugo Loetscher: Die Schweiz ist was man nennt eine Willensnation, das bedeutet, dass die klassische Vorstellung der Romantik von einer Nation mit einer eigenen Sprache, einer eigenen Geschichte und einem eigenen Volk hier nicht zutrifft. Eigentlich hat man in der Schweiz erst in den letzten Jahren damit angefangen, sich mit dem Thema "schweizerische Identität" zu beschäftigen. Früher gab es halt die Schweiz und keiner machte sich weiterhin grosse Gedanken darüber. Mit dem europäischen Zusammenschluss hat sich das sehr geändert und obwohl die Schweiz – leider – nicht Teil der Europäischen Union ist, wird hierzulande die Frage, ob es überhaupt eine Einheit zwischen den vier Sprach- und Kulturgemeinschaften existiert, immer mehr diskutiert.

Hat es diese Einheit je wirklich gegeben?

Nein, sie ist eine reine Illusion. Die verschiedenen Kulturen, und vor allem die deutschsprachige und französischsprachige, existieren nicht miteinander, sondern nebeneinander. An die vier Schweizer Kulturen sollte man auch in einem völlig anderen Kontext herangehen.
Das Retoromanische ist eine Ausnahme. Es handelt sich um eine Sprache, deren Existenz auf öffentliche Förderung angewiesen ist. Aber eine Sprache und eine Literatur kann sich nicht nur Dank Subventionen am Leben erhalten. Ich habe, in einer ironischen Weise, suggeriert, man sollte das Retoromanische einfach verbieten. Sofort würden in Liechtenstein Befreiungsfronten – für jeden Dialekt eine - gegründet werden und die Jugendlichen würden um ihre Sprache kämpfen. Heute hat fast jedes Tal seinen eigenen "Dichter" und fast alles, was sie schreiben, wird auch noch publiziert. Dies bringt keine Qualität, sondern führt zu einer allgemeinen Nivellierung.
Das Tessin, die italienische Region, ist schon etwas grösser, aber ist kulturell von Italien abhängig. Es ist für einen Tessiner Verlag schwierig, dass seine Publikationen in Italien zur Kenntnis genommen werden. Daher sind italienisch-schreibende Autoren praktisch auf Verlage in Italien angewiesen. Im Gegensatz zum Retoromanischen, das eigentlich aus fünf Dialekten besteht, gibt es im Tessin eine deutliche Tendenz zur Standardisierung. Die meisten Jugendliche studieren an norditalienischen Universitäten, seit Jahren gibt es zwar eine Hochschule, deren Fakultäten beschränkt sind, die wichtigste ist Architektur. Wie schwierig das Verhältnis vom Tessin zu Italien sein kann, zeigte die Frankfurter Buchmesse; als Italien Gastland war, da wurden die Autoren aus dem Tessin, als nicht-Italiener, "vergessen".
Die Situation der Romandie ist furs erste nicht so anders. Es gibt zwar mehr Einwohner und auch einige grössere Städte, aber in der französischen Literatur zählt ein Autor erst, wenn man ihn auch in Paris kennt. Die französische Kultur ist nach wie vor sehr zentralistisch. Deswegen versucht z.B. das französischsprachige Fernsehen der Schweiz oft mit Belgien oder Kanada zusammenzuarbeiten, damit sie sich der Dominanz Frankreichs entziehen können. Aber Paris dominiert nach wie vor ganz klar die französische Kultursituation. Dies erklärt auch, wieso viele französischsprachige Autoren der Schweiz in Frankreich leben. Es handelt sich da um eine alte Tradition, die es eigentlich bereits seit Jean-Jacques Rousseau gibt. Aber wer weiss, dass z.B. Blaise Cendrars oder Alberto Giacometti Schweizer sind? Den Ausdruck "Romandie", der Eigenständigkeit beweisen soll, gibt es erst seit dem neuenzehnten Jahrhundert, Rousseau war zwar ein citoyen de Genève, aber nie ein Vertreter der französischsprachigen Schweiz.
Was die Sprachsituation betrifft unterscheidet sich die französischsprachige Schweiz grundsätzlich von der deutschsprachigen. Sieht man von regionalen Eigenheiten ab, ist das Französische der Romandie in Frankreich ohne Probleme verständlich. Das gilt nicht für die deutschsprachige Schweiz, wo Dialekt gesprochen wird und auf Hochdeutsch geschrieben. Wenn demnach ein Film im deutschsprachigen Teil dieses Landes gedreht wird, läuft er in Deutschland mit Untertiteln oder muss synkronisiert werden. Die deutsche Kulturlage ist völlig anders. Einen Zentralismus wie in Frankreich hat es nie gegeben, schon immer existierten Zentren wie Wien und Prag, München oder Hamburg neben Berlin. Deswegen war es für eine Stadt wie Zürich auch leichter, sich kulturell schon im achtzehnten Jahrhundert zu profilieren. In der Romandie ist dies für Genf oder Lausanne gegenüber Paris undenkbar. So kannte die deutschsprachige Schweiz im neunzehnten Jahrhundert bereits Klassiker, wie Keller, Meyer und Gotthelf, die in ganz Deutschland bekannt waren.
Ausserdem ist die deutschsprachige Schweiz gross genug, um eine eigene Kulturprovinz darzustellen. Sie umfasst über zwei Drittel der schweizerischen Bevölkerung, hat mit Zürich eine Metropole und steht wirtschaftlich auch viel stärker da als die Romandie, die seit der Krise in der Uhrenindustrie sehr geschwächt worden ist. Diese Situation spiegelt sich auch im Verlagswesen, so erscheinen deutsche Autoren in Schweizer Verlagen und es ist nicht ungewohnt, dass die Hälfte der deutschsprachigen Schweizer Autoren in Deutschland publiziert werden. Und dass die deutsche Kultursituation nicht zentral ist, dass beweist die Tatsache, dass man mit selbstverständlicher Gleichberechtigung von einer schweizerischen oder österreichischen Literatur redet.

Ist die Rolle der Schweiz als "Helvetia Mediatrix", als Kulturvermittlerin zwischen einem germanischen und romanischen Europa also eine reine Illusion?

Eigentlich ja. Es hat allerdings Versuche gegeben. So galt das zweisprachige Städtchen Biel/Bienne lange als ein Vorbild für eine multikulturelle Schweiz. Aber auch da musste man feststellen, dass neben dem französischsprachigen Turnklub auch ein deutschsprachiger gegründet wurde. Die Kulturstiftung "Pro Helvetia" finanziert literarische Übersetzungen der einen Landssprache in die andere, was beweist, dass eine gegenseitige Kenntnisnahme ohne Subvention nicht möglich ist. Ich könnte hier ein eigenes Beispiel nennen: alle meine Bücher sind auf Französisch vorhanden, aber bei einem Pariser Verlag.
Früher gab es noch die Tradition des Welschjahrs. Man ging als deutschsprachiger Schweizer nach der Ausbildung ein Jahr in die Romandie, um so perfekt Französich zu lernen. Heute ist diese Tradition praktisch verschwunden. Das hat mit einem allgemeinen Desinteresse am Französischen zu tun. Die Situation kompliziert sich dadurch, dass die französischsprachigen Schweizer, wenn sie Deutsch lernen, Hochdeutsch lernen, sich aber im Alltag mit dem Dialekt der Deutschschweizer konfrontiert sehen. Bald können Jugendliche aus der französisch- und deutschsprachigen Schweiz nur noch auf Englisch miteinander kommunizieren.

Hat die Schweiz als viersprachiges Land keine Zukunft mehr?

So weit würde ich nicht gehen. Trotz allem darf man ein schweizerisches Bewusstsein nicht unterschätzen: wir wachsen heran mit dem Bewusstsein, dass es neben der eigenen Sprache noch andere hat und dass die anderen auch dazugehören. Auch wenn wir diese anderen Sprachen nicht beherrschen, wissen wir und bestehen darauf, dass sie Teil unserer Identität sind. Der grösste Vorteil der heutigen Schweiz als mehrsprachiges Land ist, meiner Meinung nach, dass keine Sprache und Kultur es sich leisten kann, in der Hierarchie eine Absolutheit darzustellen.

Interview von Jeroen Dewulf (Universität Porto) mit Hugo Loetscher am 10.11.2001.

Hugo Loetscher, eine Einführung
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